In den vergangenen fünfzig Jahren war der ehemalige Wohnsitz Chiang Kai-sheks, des verstorbenen Staatspräsidenten der Republik China, ein geheimnisumwobener Ort, der für die allgemeine Öffentlichkeit nicht zugänglich war. Bis auf das Wohnhaus ist das Anwesen seit dem 5. August dieses Jahres zur Besichtigung freigegeben.
Der Ex-Präsident und seine Familie lebten von 1950 bis zu seinem Tod 1975 in der weitläufigen Residenz im Taipeier Vorort Shihlin. Ursprünglich diente der zirka sieben Hektar große Park während der japanischen Besatzungszeit von 1895 bis 1945 als Gartenbauversuchsanstalt. Nachdem Taiwan nach Ende des Zweiten Weltkriegs wieder an China zurückgegangen war, errichtete die Provinzregierung auf dem Gelände in Shihlin mehrere Gästehäuser für ausländische Ehrengäste. 1950 wurde es dann zur offiziellen Residenz Präsident Chiangs und seiner Gattin Soong May-ling, nachdem die Republik China ihren Regierungsitz während des chinesischen Bürgerkriegs nach Taiwan verlegt hatte. Die Familie Chiang lebte hier 26 Jahre lang bis zum Tod des Präsidenten im Jahr 1975.
In den letzten Jahren stand die Villa nach dem Umzug Madame Chiangs nach New York größtenteils leer. Das Herrenhaus selbst und das angeschlossene Gästehaus bleiben als Geste des Respekts für die ehemalige First Lady auch weiterhin für Besucher verschlossen. Zu den Bereichen des Anwesens, die jetzt besichtigt werden können, gehören der Rosengarten Madame Chiangs, weitere Gärten im chinesischen und westlichen Stil, ein Gemüsegarten, die Gewächshäuser, die Pavillons, die früheren Baracken für das militärische Wachpersonal, eine Halle für Gartenbauausstellungen und die Kaike-Kapelle.
Die Stadtregierung Taipei beschloß die Freigabe des Geländes, um die Hauptstadt um eine weitere Touristenattraktion zu bereichern und den Bürgern eine weitere öffentliche Grünanlage zur Verfügung zu stellen. Am Tag vor der historischen Öffnung lud die Stadtverwaltung 100 Paare, die ihre goldene Hochzeit feierten, zu einer Feier in den weitläufigen Garten ein. Damit der Park eine ursprüngliche Schönheit zurückerhält, werden derzeit große Teile neu gestaltet und bepflanzt. Laut Bürgermeister Chen Shui-bian will die Stadt hier auch ein Theater mit 2000 Sitzplätzen bauen.
Chang Jing-sen, Direktor der Stadtentwicklungsbehörde Taipei, berichtet, bisher habe man über 2600 Rosenstöcke, darunter 14 verschiedene Züchtungen, im Rosengarten der Residenz angepflanzt. Im November sollen sie in voller Blüte stehen. Chang hob besonders die historische Bedeutung des Ortes hervor, die in vielen Besuchern Erinnerungen an die Chiang-Ära wachrufen werde.
Betritt man das Gelände durch den Haupteingang an der Fulin-Straße wird man zunächst von den Barackenreihen und dem Trainingsplatz für das militärische Wachpersonal begrüßt, das ehemals für die Sicherheit des Staatsoberhaupts gesorgt hat. Früher gehörten zu diesem Teil der Präsidentenresidenz noch Büros des Militärs sowie die Wohngebäude für die Wachsoldaten und Militäroffiziere. Heute ist dieser Bereich eine Parkfläche.
Der Rosengarten war Madame Chiangs Lieblingsplatz. In dem 3000 qm großen Garten blühten zu seinen Glanzzeiten über 2000 Rosen verschiedener Sorten. Jedes Frühjahr war er von März bis Mai ein Blumenmeer in den schönsten Farben. "Madame Chiang liebte es, zwischen den wunderschönen Rosen mit dem Präsidenten und Freunden der Familie spazierenzugehen", berichtet Fang Yi-hsuan, Abteilungsleiter in der Shihlin-Gartenbaustation, die immer noch auf dem Gelände betrieben wird. Hinter dem Rosengarten stehen zwei Gewächshäuser, in denen die verschiedenen Blumen und anderen Pflanzen für die Gestaltung des Geländes gezogen wurden, als die Familie Chiang hier noch wohnte. Die Präsidentenvilla wurde rund ums Jahr jeden Tag mit frischen Blumen dekoriert. Neben den Rosen wurden jeden Morgen frische Cattleya-Orchideen, Gladiolen und andere Blumen in den Gärten und Gewächshäusern geschnitten. Die Chiangs zogen auch ihr eigenes Gemüse. Mais, Karotten, Kohl und Grüngemüse sowie Zuckerrohr und Erdnüsse wurden im Garten des Präsidenten geerntet. Seit dem Tod Chiangs diente der Gemüsegarten allerdings hauptsächlich als Saatbeet.
An der Nordwestseite des Rosengarten befindet sich die Kaike-Kapelle. Die gesamte Chiang-Familie war christlichen Glaubens und kam hier jeden Sonntag zum Gottesdienst zusammen. Drei Generationen der Chiangs wurden hier getauft, und die Hochzeiten der beiden Enkelsöhne Chiang Hsiao-yung und Chiang Hsiao-kang fanden ebenfalls hier statt. Zum historischen Wert des Gebäudes trägt des weiteren bei, daß die ehemaligen US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower und Richard M. Nixon in dieser Kapelle bei Predigten anwesend waren.
Das Wohnhaus der Chiangs zieht sich an der gesamten Rückseite der Residenz entlang. Die Villa ist zwar nicht zur Besichtigung freigegeben, aber die Besucher des Geländes können sich anhand der von der Residenzverwaltung herausgegebenen Touristenbroschüre ein Bild von der aufwendigen und erlesenen Inneneinrichtung machen. Im Erdgeschoß des zweistöckigen Hauses befinden sich ein Büro für den Militärattaché, ein Salon, ein Wohnzimmer und ein formeller Speisesaal. Jeder dieser Räume wurde üppig mit wertvollen chinesischen und westlichen Antiquitäten ausgestattet, welche die Regierung mitgebracht hatte, als sie ihren Sitz nach Taiwan verlegte. Die Schlaf- und Arbeitszimmer der Chiangs nehmen das Obergeschoß ein.
Ein großer Empfangssaal, in dem 300 Personen Platz finden, wurde 1960 im Erdgeschoß angebaut. Jedes Jahr feierten die Chiangs hier mit vielen Gästen am 10. Oktober den Nationalfeiertag der Republik China und am 4. Juli den Tag der Unabhängigkeit der USA.
Da Chiang Kai-shek sich gern beim Beobachten von Fischen und Vögeln entspannte, wurden direkt vor der Villa eine Vogelvoliere und ein Karpfenteich angelegt. Direkt neben der Präsidentenvilla steht das Gästehaus, das ebenfalls nicht betreten werden darf. Hier residierten wichtige Staatsgäste, und nach dem Tod des Präsidenten lebte hier einige Jahre lang Madame Chiangs Lieblingsnichte Kung Ling-wei.
Der ehemalige Wohnsitz des Präsidenten ist am Fuß des Bergs Fushan gelegen, an den die drei Bezirke Shihlin, Tachih und Neihu grenzen. Um für die Sicherheit des Präsidenten zu garantieren, wurde für das Gebiet ein Kommandoposten des Militärs eingerichtet. Auch heute noch ist hier Militärpolizei stationiert. In der Nähe des Wohngebäudes wurde ein unterirdischer Bunker gegraben, der im Falle einer kommunistischen Invasion Taiwans als Kommandozentrale des Präsidenten dienen sollte. Es heißt, der Bunkertunnel führe bis in den Stadtteil Tachih zur ehemaligen Residenz des Sohnes und Amtsnachfolgers Chiang Kai-sheks, des verstorbenen Präsidenten Chiang Ching-kuo.
Dieser von uns übersetzte und redigierte Artikel erschien erstmals am 9. August 1996 in der Wochenzeitung Free China Journal.